(ir) Feierliche Eröffnung von CARISSMA, dem wissenschaftlichen
Leitzentrum für integrale Fahrzeugsicherheit.
Der große
Knalleffekt zur offiziellen Inbetriebnahme blieb passender Weise nicht aus: Im
neuen Forschungs- und Testzentrum für Fahrzeugsicherheit in Deutschland geht es
nämlich genau darum, Strategien zur Unfallvermeidung zu validieren und im
Zusammenspiel mit unfallfolgemindernden Instrumente wie beispielsweise einem
Airbag auf ihre Wirkung hin zu testen. Der innovative Forschungsbau mit seiner
exzellenten Infrastruktur steht ab sofort Wissenschaftlern wie
Automobilherstellern und Zulieferern aus aller Welt für gemeinsame
Forschungsprojekte zur Verfügung. Entsprechend souverän startete der Betrieb auf
der 123 Meter langen Indoor-Versuchsanlage mit Demonstrationen mit und ohne
Zusammenstoß.
Der
Name CARISSMA steht für „Center of Automotive Research on Integrated Safety
Systems and Measurement Area“. Ziel ist die Entwicklung und Validierung globaler
Sicherheitskonzepte, in denen aktive, passive und kooperative Sicherheitssysteme
gezielt ineinandergreifen. Dabei können erstmalig vorausschauende
Sicherheitssysteme vor, während und nach einem Unfall unter reproduzierbaren
Bedingungen getestet werden. Durch die Vernetzung von Indoor-Versuchsanlage oder
Freiversuchsgelände mit Plattformrobotern, realitätsnahen Attrappen und
virtuellen Hindernissen können hochkomplexe Szenarien vergleichsweise einfach
konzipiert und realisiert werden. Mit einem Investitionsvolumen von 28 Millionen
Euro ist CARISSMA zudem der erste Forschungsbau an einer Fachhochschule, der auf
Empfehlung des Wissenschaftsrates in die gemeinsame Förderung von Bund und
Ländern aufgenommen wurde.
Über 500 Gäste aus Politik, Wissenschaft und
Industrie überzeugten sich am Montag live vor Ort von den vielfältigen
Möglichkeiten, die das neue Leitzentrum für integrale Fahrzeugsicherheit bietet.
Die Bundesministerin für Forschung und Bildung, Professorin Dr. Johanna Wanka,
betonte in ihrer Rede die Bedeutung des Leuchtturmprojekts für den
Innovationsstandort Deutschland und unterstrich die Bedeutung von
Fachhochschulen im deutschen Wissenschaftssystem: „Hochschulen wie die TH
Ingolstadt, die in der Mitte der Gesellschaft stehen und auf Augenhöhe mit ihren
Partnern zusammenarbeiten, sind Motoren des Fortschritts für ihr Umfeld.“
Auch der Bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer lobte das
außerordentliche Engagement in seinem Heimatort Ingolstadt: „Die THI steht für
herausragende Innovationen in unseren bayerischen Schlüsseltechnologien –
Maschinenbau, Automobile und Luftfahrt. Auf dem Weg zur führenden
‚Mobilitäts-Hochschule‘ in Deutschland sind wir jetzt wieder einen Schritt
weiter: Der erste eigene Forschungsbau an einer Hochschule für angewandte
Wissenschaften in Deutschland, der in Betrieb geht, steht in Ingolstadt.
CARISSMA als wissenschaftliches Leitzentrum für Fahrzeugsicherheit in
Deutschland ebnet den Weg für die ‚Zukunft in Bewegung‘ - für klug vernetzte
Fahrzeuge, für digitalen Aufbruch und für Hightech ‚made in Bavaria‘.“
Nach der finalen Ausbaustufe im Jahr 2018 werden insgesamt 85 Forscher und
Versuchsingenieure am Leitzentrum für integrale Fahrzeugsicherheit arbeiten. Das
Team vereint Automotive-Experten aus den unterschiedlichsten Disziplinen, von
Ingenieurwissenschaften und Informatik bis hin zu Verkehrspsychologie und
-ökonomie.
Professor Dr. Thomas Brandmeier, wissenschaftlicher Leiter
von CARISSMA erklärt, warum der interdisziplinäre Austausch entscheidend ist, um
einen ganzheitlichen Ansatz in der Verkehrssicherheit zu etablieren:
„Kommunikation spielt eine wichtige Rolle. Wir fördern in jeglicher Hinsicht den
Dialog, egal, ob in der Kommunikation zwischen Fahrzeugen und ihrer Umwelt,
zwischen verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen oder in der internationalen
Automotive-Community.“
Einen Vorgeschmack auf die Testmethoden von morgen
erhielten die Anwesenden zudem in einer spektakulären Live-Vorführung.
Demonstriert wurde ein neuartiger Brems-Lenk-Versuch mit einem autonom fahrenden
Testfahrzeug und einem realistischen Fußgänger-Dummy. Auf einer Anlaufstrecke
von 60 Metern beschleunigt das Fahrzeug in der radar- und lidartauglichen Halle
auf 40 km/h. Der Niederschlag aus der hauseigenen Regenanlage behindert die
Sicht der vorausschauenden Sensoren, wie auch in der Realität die des Menschen.
Von rechts kreuzt plötzlich ein eigens entwickelter Fußgänger-Dummy, der mit
seinen lebensnahen Bewegungen von Sicherheitssystemen zweifelsfrei als Passant
erkannt werden muss. Zusätzlich erhöht die Feuchtigkeit den Bremsweg aufgrund
des gesenkten Reibwerts der Reifen. Zur bestmöglichen Unfallvermeidung wird
deshalb nicht nur wie heute üblich in die Bremse eingegriffen, sondern aktiv vom
ungeschützten Verkehrsteilnehmer weggelenkt. Das Fahrzeug reagiert in unter
einer Sekunde bis zum eigentlichen Impact und die Kollision wird somit effektiv
vermieden. Die reproduzierbaren Bedingungen in der Halle ermöglichen es, solche
Eingriffe in die Fahrdynamik verlässlich zu validieren. Die Komplexität der
Szenarien lässt sich langfristig beliebig steigern. Die eingebaute
Positionierungsanlage ermöglicht eine hohe örtliche und zeitliche Präzision.
Denkbar wären beispielsweise Tests mit mehreren Verkehrsteilnehmern wie
Fahrradfahrern, Skateboardern oder Segway-Touristen.
In zwei weiteren
Tests zeigten die Automotive-Experten von CARISSMA, wie auch
unfallfolgemindernde Technologien im Realversuch mit hoher Crashschwere
überprüft werden können. In der passiven Sicherheit geht es darum, die Insassen
bei einem unvermeidbaren Aufprall optimal zu schützen. Irreversible Aktoren wie
beispielsweise ein Airbag können basierend auf vorausschauenden Sensoren bereits
vor einem Aufprall ausgelöst werden, um die Sicherheit weiter zu steigern. Für
eine Zündung vor der Kollision müssen allerdings absolut belastbare Voraussagen
über den Fahrverlauf getroffen werden. Im ersten Crashversuch mit eine komplett
abrüstbaren Crashblock fährt ein PKW mit 35 km/h mittig gegen einen Pfahl, in
der zweiten Variante kommt eine Barriere mit einem Offset von 40 Prozent zum
Einsatz, um den in der Realität häufiger vorkommenden versetzten Aufprall zu
simulieren. Das Sicherheitssystem erkennt im Test die bevorstehende Kollision
und reagiert bereits 100-200 Millisekunden vor dem eigentlichen Zusammenstoß.
Aus Sicherheitsgründen wurden beide Demonstrationen vorab per Video
aufgezeichnet. Egal, welche weiteren Sicherheitskomponenten und technischen
Lösungen die Automobilbranche in den nächsten Jahrzehnten entwickelt, das
CARISSMA-Team ist auf (fast) alles vorbereitet.