Mehr Ängste, Sorgen und Selbstzweifel durch Corona



Caritas beleuchtet Folgen der Pandemie für junge Menschen bei Armutswochen.

(ir) Die Coronafolgen für Jugendliche und junge Erwachsene thematisiert die Caritas in ganz Deutschland bei ihren Armutswochen zwischen dem Internationalen Tag zur Beseitigung der Armut am 17. Oktober und dem Welttag der Armen der katholischen Kirche am 14. November 2021. Verantwortliche und Mitarbeitende des Diözesan-Caritasverbandes Eichstätt erleben diese Folgen oft in drastischer Weise. Sie warnen davor, mit der Rückkehr zum normalen Alltagsleben einfach zur Tagesordnung überzugehen.



Nach Erfahrung von Thomas Schnelzer, Leiter der Caritas-Erziehungsberatungsstelle Neumarkt und Sprecher für diesen Bereich beim Caritasverband Eichstätt, hat sich das digitale Homeschooling als Lernen ohne echte soziale Kontakte bei vielen jungen Menschen als auch bei deren Eltern als schwere Belastung erwiesen. „Benachteiligt waren diejenigen Kinder und Jugendlichen, deren Eltern den Lernstoff nicht beherrschten und sie deshalb nicht mittels gemeinsamen Lernens unterstützen konnten“, so Schnelzer. „Das so entstandene Defiziterleben sorgte zunehmend für Leistungsdruck, Angst und Selbstwertprobleme nach dem Motto ‚Wie soll ich das jemals aufholen?‘“



Dadurch seien Schülerinnen und Schüler zunehmend deprimiert, verängstigt, besorgt, angespannt und verärgert, wodurch wiederum familiäre Konflikte angestiegen seien. „Derartige Fälle haben in unserer Beratungsarbeit deutlich zugenommen“, stellt der Diplom-Psychologe fest. Isolation und Langeweile durch Lockdowns hätten auch zu „Onlinebezogener Sucht“ geführt. „In unserer Beratungsstelle zeigte sich diese Entwicklung in Fällen, bei denen Versuche der Eltern, das Online-Spielen zu begrenzen, erfolglos waren oder mit aggressivem Verhalten quittiert wurden.“



Dass einige Jugendliche überhaupt nur sporadisch an Onlineangeboten der Schulen teilgenommen haben, hat nach Erfahrung von Dr. Katrin Lang, Leiterin der ökumenischen Erziehungsberatung Ingolstadt, mehrere Gründe: zum Beispiel mangelnde Fähigkeit, sich selbst zu motivieren, wenig elterliche Kontrolle, schlechte technische Ausstattung und enge Wohnverhältnisse. „Gerade Jugendliche und junge Erwachsene berichten uns immer wieder von verstärkten depressiven Symptomen, Antriebs- und Lustlosigkeit“, so Lang. Sie geht davon aus, dass erst das neue Schuljahr zeigen werde, welche Folgen Corona hat und viele Jugendliche und Familien „erst in den nächsten Monaten zu uns kommen“.

Klassenwiederholungen und Ganztagesbeschulung samt Freizeitprogramm können ihrer Meinung nach jetzt sinnvoll sein. Dazu brauche es aber mehr qualifiziertes Lehrpersonal, „insbesondere auch pädagogisches und psychologisches Personal an Schulen“.



Martin Seger, Leiter der Caritas-Erziehungsberatung in Nürnberg-Langwasser, meldet stetig steigende Anmeldezahlen in den letzten Monaten. Die Pandemie und ihre Auswirkungen seien oft Thema in den Beratungen. Auffälligkeiten und Probleme in Familien sind Seger zufolge durch die Corona-Umstände verstärkt worden: „Dies sind zum Beispiel vermehrt Essstörungen, Beziehungsprobleme in der Familie, Zwangsstörungen und Verhaltensprobleme bei Kindern.“ Viele Schülerinnen und Schüler müssten jetzt erst wieder an das regelmäßige Lernen herangeführt werden. „Da sicher ein nicht geringer Teil im letzten halben Jahr kaum nachhaltig beispielsweise Englischvokabeln gelernt hat, scheint es problematisch, diese jetzt als gefestigt vorauszusetzen. Insofern ist eben auch ein individueller Blick auf den einzelnen Schüler notwendig“, so Seger. Er plädiert für die Bildung kleiner Lerngruppen mit erreichbaren Zielen.



Julia Heider, Caritas-Jugendsozialarbeiterin an der Sir-William-Herschelschule hat unter anderem „vermehrt schulvermeidendes Verhalten bei Schülerinnen und Schülern“ festgestellt. Während der Lockdown-Zeiten gingen sie und ihre Kolleginnen und Kollegen mit Betroffenen zum Beispiel spazieren, „damit Kinder und Jugendliche ihre Sorgen mit uns teilen konnten“. Bundesfreiwilligendienstleistende hätten zudem mit einzelnen Kindern gelernt, die im Distanzunterricht nicht zurechtkamen. Sie sieht jetzt individuelle Hilfemaßnahmen für unabdingbar. Dafür müssten unter anderem Stellen für Jugendsozialarbeit aufgestockt werden.



Maika Böhme, Fachdienstleiterin der Beratungsstelle für psychische Gesundheit bei der Caritas-Kreisstelle Ingolstadt, erfährt: „Selbstzweifel, Ängste und Rückzug haben zugenommen. Jetzt, wo erneut mehr erlaubt ist, fällt es vielen jungen Menschen schwer, wieder zwanglos soziale Kontakte wahrzunehmen. Die alte Lebensstruktur ist verloren gegangen und nicht so leicht wiederherstellbar.“ Sie hält es nun für wichtig, junge Menschen an Schulen und in Medien aufzuklären, welche Anlaufstellen es für sie gibt. „Auch angeleitete – gegebenenfalls anonyme – Gruppen wären ein niederschwelliges Angebot. Hierfür benötigen wir jedoch mehr Personal.“



Christina Furthmüller, Diplom-Psychologin in der heilpädagogischen Einrichtung Caritas-Kinderdorf Marienstein, berichtet, dass in Lockdown-Zeiten manche Kinder der Einrichtung „ihre Eltern wochenlang nicht sehen konnten und andere Kinder wochenlang zu Hause ohne notwendige pädagogische Begleitung und Hilfe waren“. Dies sei umso tragischer, also diese Kinder „in den meisten Fällen nicht auf ein stabiles Familiensystem zurückgreifen können“. Problematisch sei zudem, dass im Berufsvorbereitenden Dienst der Einrichtung die Berufspraktika komplett entfallen mussten. „Das heißt, wie haben jetzt einen ganzen Jahrgang an Schulabgängern ohne jegliche Berufsvorbereitung.“ Froh ist sie, dass das Kinderdorf von psychotherapeutischer Seite „durch unseren internen psychologischen Fachdienst die Kinder durch Telefonate und Videoberatung einigermaßen gut auffangen“ konnte. Von der Politik wünscht sie sich „eine Stärkung der Jugendämter, da wir davon ausgehen, dass der Großteil an negativen Auswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen erst in den nächsten Monaten die Jugendämter erreichen wird“.



Bernhard Gruber, Sozial- und Schuldnerberater bei der Caritas-Kreisstelle Ingolstadt hat in der Pandemie vor allem von mangelnder technischer Ausstattung bei Familien erfahren, also etwa fehlendem Computer, Laptop oder Drucker. Für besonders wichtig hält er es, „dass die Zugangshemmnisse zu den Behörden abgebaut werden. Zeitweise ist ohne Onlinetermin oder Online-Antrag gar kein Kontakt mehr möglich“, kritisiert er. Das sei gerade ein Problem, weil viele nicht über die technischen Vorrichtungen verfügten, „und mit dem Handy funktioniert das nicht“. Mitbekommen habe er in seiner Beratung die Auswirkungen von Corona stark durch Einkommensverluste bei Klienten in Folge von Kurzarbeit, Kündigungen und Beendigungen von befristeten Beschäftigungen. Dies habe nicht selten in die Überschuldung geführt. Und das habe natürlich auch Auswirkungen auf die Kinder.